Anatomie und Spiritualität im Yoga – eine Diskussion
Wieviel Spiritualität verträgt eine Yogalehrer-Ausbildung? Und kommen andere grundlegende Aspekte wie die Anatomie dadurch zu kurz?
Viele Menschen kommen über körperliche Beschwerden zum Yoga.
Sie haben Rückenschmerzen, Haltungsschäden, Kopfschmerzen, verspannte Nacken…
und sind auf der Suche nach einer Bewegungsform, die ihnen guttut. Das
Om-Singen am Anfang und Ende der Stunde, die Entspannungsphasen… ok, daran muss
man sich gewöhnen. Oder man lässt sie einfach weg. Man kann ja vorher auch
rausgehen… oder stattdessen ein bisschen schlafen.
„Am Anfang scheint Yoga sehr körperlich“ hat mir mal jemand
gesagt.
Die meisten unter uns allerdings, die dabei bleiben, würde
ich behaupten, lernen mit der Zeit genau diese Dinge zu schätzen: Die
Atemübungen, das Meditieren, das Entspannen, das Chanten. Genau das sind dann
die Dinge, die uns motivieren, zum Yoga zu gehen. Warum? Was gibt uns das?
Es ist offensichtlich, dass Yoga viel für unseren Körper tun
kann. Wenn wir regelmäßig praktizieren, können wir uns körperlich vollständig
fit halten, gesundheitlichen Problemen vorbeugen und sie sogar beseitigen. Aber
das gilt eigentlich für jede Art von sportlicher Bewegung, die einigermaßen
ausgeglichen praktiziert wird.
Was also macht die Faszination für Yoga aus? Und kann man
dieses Konzept beschneiden, es runterbrechen auf gymnastische Übungen, sauberes
Alignment und die korrekte Atemtechnik? Ist es möglich, sich nicht mit den
Ursprüngen dieser jahrtausendealten Lehre zu beschäftigen und das Konzept
dennoch zu verstehen? Und ist es sinnvoll, das so zu machen? Sich zu nehmen,
was man zu brauchen glaubt und den Rest zu vernachlässigen?
Was macht einen guten Yogalehrer aus? Etwa, dass er alle
Asanas, deren anatomische Vor- und Nachteile, die Risiken, Varianten etc.
kennt, sie perfekt in Sequenzen kombinieren kann und damit ein gutes Workout
kreiert? Habt ihr euch mal gefragt, warum ihr zu euren Lieblingsyogalehrern
geht und was euch davon abhält, andere Kurse zu besuchen, die euch nicht so
ansprechen? Was ist es, was guten Unterricht ausmacht?
Vor Kurzem bin ich über eine Diskussion bei Facebook
gestolpert (die inzwischen gelöscht wurde, sonst hätte ich sie verlinkt), in der
die Frage aufgeworfen wurde, warum in den Yogalehrer-Ausbildungen in
Deutschland so viel Wert auf die Vermittlung der hinduistischen Mythologie
gelegt werde und dafür das Thema Anatomie viel zu kurz komme. Alle schienen
darin überein zu stimmen, dass das Wichtigste im Yoga, wie es heutzutage in
westlichen Ländern gelehrt wird, doch die korrekte Ausführung der Asanas sei
und es ja schließlich auch durch westliche Einflüsse wie Gymnastik etc.
weiterentwickelt worden sei. Entsprechend müsse ein Yogalehrer in seiner
Ausbildung hauptsächlich anatomisches Wissen erlangen und seine Zeit nicht mit
dem unnötigen Pauken von jahrtausendealten, realitätsfernen und zudem noch
religiösen Mythen vertrödeln (denn was bitte hätte denn Religion mit Yoga zu
tun?).
Ich fragte mich, ob ich die einzige bin, die das anders
sieht. Die ganze Diskussion darüber, wie bedeutend anatomische versus
sprituelle Aspekte im Yoga sind, ist für mich völlig hinfällig. Denn auch
Anatomie ist spirituell und Spiritualität hat einen direkten Einfluss auf
unsere Anatomie. Gehen wir wirklich zu einem Yogalehrer, weil er uns korrekt
ausrichtet? Ist das das einzige, was uns interessiert? Oder könnten wir dann
nicht eher zu einem Physiotherapeuten oder Chiropraktiker, zu einem
Sportmediziner oder Personal Trainer gehen? Warum gehen wir also zum Yoga?
Meine Antwort ist diese: Ein Lehrer lebt durch seine
Persönlichkeit, durch seine ganz individuelle Schwerpunktsetzung und durch
dieses gewisse Etwas, was er seinen Schülern weitergibt, das nur er hat. Eine
Ausbildung kann Grundlagen schaffen und jeder, der sich mit der Frage
beschäftigt, ob er Yoga unterrichten möchte, sollte sich eine Ausbildung
aussuchen, die zu den eigenen persönlichen Ansätzen am besten passt. In 200
Stunden ist es absolut unmöglich, alles über Yoga zu vermitteln, was wichtig
ist. Wir können in das Thema Anatomie einsteigen und die grundlegenden Dinge
darüber lernen, sodass wir uns sicher fühlen und wissen, dass wir keine Fehler
machen. Wenn das Thema Anatomie später dann zu etwas wird, was einen wirklich
fasziniert, hat man unendliche Möglichkeiten, sich auf diesem Gebiet
weiterzuentwickeln. Und dasselbe gilt für andere Aspekte des Yoga, für
Chakrenarbeit, für Meditation, für Pranayama, für die Yogaphilosophie usw.
In meiner Ausbildung habe ich gelernt, dass jede Stunde
einen Bezug zu den spirituellen Ursprüngen des Yoga haben sollte und ich habe
erlebt, dass es das Ganze für meine Schüler erst rund macht. Sie kommen zum
Yoga, um sich mit sich selbst auseinanderzusetzen und einen Ort zu finden, an
dem sie sich mit ihrer Spiritualität verbinden können. Die körperliche Praxis
hilft ihnen dabei. Aber das, was sie entspannt und gelassen, vielleicht
glücklich, vielleicht sogar in dem Moment erleuchtet, nachhause gehen lässt,
ist niemals nur der Effekt körperlicher Praxis.
Daher finde ich, sollte es keine Diskussion darüber geben,
warum den spirituellen Inhalten so viel Raum in den Ausbildungen gegeben wird.
Es handelt sich dabei für mich um Grundlagenwissen, das wir am besten durch
eigenes Erleben verinnerlichen. Erst durch das plastische Vermitteln von
Yoga-Philosophie wird eine Ausbildung zu dem, was sie ist: einer ganz
unmittelbaren Erfahrung dessen, was sich auf Körper und Geist positiv auswirkt.
Die Ausbildung sehe ich als eine intensive Reise zu sich selbst. Und durch das
Erkennen des eigenen Selbst kommt automatisch auch die Fähigkeit, dieses
Erleben weiterzugeben.
Wenn es beim Yoga um Ganzheitlichkeit geht – und ich denke,
darin stimmen wir alle überein – dann ist doch eine Diskussion über Anatomie
versus Spiritualität gar nicht notwendig. Ein simples Beispiel ist die
Synchronität des Chakra-Systems und der physischen Körpersysteme. Wenn wir uns
wirklich in der Tiefe mit Anatomie beschäftigen, kommen wir schnell an den
Punkt, an dem uns bewusst wird, wie verflochten Körper und Geist miteinander
sind. Wir wissen heutzutage, dass unser Geist messbare Impulse an den Körper
abgibt und damit ganz massiv körperliche Prozesse beeinflusst. Wir kennen die
Zusammenhänge der Darm-Hirn-Achse, zwischen Depressionen und einer geschädigten
Darmflora, zwischen Entspannungstechniken und ausbalancierten Hormonsystemen.
Wir haben erkannt, dass körperliche Symptome in den allermeisten Fällen (d.h.,
wenn sie nicht durch ein physisches Trauma ausgelöst wurden) eine seelische Ursache
haben und umgekehrt.
Anatomie ist wahnsinnig faszinierend und kann ein Schlüssel
für den Zugang zu sich selbst sein. Sie ist unwidersprochen ein maßgeblicher
Bestandteil der Yogalehre. Und sicher ist es nicht gut, wenn es Lehrer gibt,
die zu wenig darüber wissen und dadurch möglicherweise Schaden anrichten. Für
mich entsteht allerdings auch ein großer Schaden, wenn Schülern ein eher
körperlich geprägtes Bild von Yoga vermittelt wird und der spirituelle Teil als
unwichtiger Schnickschnack abgetan wird. Denn genau darin liegt das große und
heilsame Potential von Yoga. Meine ganz persönliche Erfahrung bestätigt das und
auch als selbst praktizierende Yogalehrerin überrascht es mich immer wieder,
wie groß der Bedarf an Auseinandersetzung mit Spiritualität tatsächlich ist.
Meine Antwort auf die eingangs gestellte Frage ist also: Die
Leute kommen zum Yoga weil sie gerade in der Spiritualität etwas finden, was
ihnen woanders nicht angeboten wird. Und auch wenn sie es anfangs noch gar
nicht wissen, sich auf ihrer Suche noch unklar fühlen, spirituelle Themen
vielleicht sogar ablehnen, weil sie ihnen zu unwissenschaftlich und unplausibel
erscheinen, so erfahren sie eben doch ganz unmittelbar, wie man sich nach einer
guten Yogastunde fühlen kann.
Yoga bedeutet Einheit. Einheit von Körper und Geist.
Abwesenheit von Urteilen und Kategorien wie gut und schlecht. Überlassen wir es
doch jedem Yogi selbst, auf welche Weise er praktizieren möchte, welche
Schwerpunkte er dabei setzen möchte und welchen Weg er beschreitet. Es erstaunt
mich wirklich, dass in der Welt des Yoga eine Diskussion darüber aufkommen
kann, was besser oder schlechter ist. Uns muss nicht alles gefallen, aber wir
müssen auch nicht alles immer und ständig bewerten, uns eine Meinung dazu
bilden und uns darüber erheben. Was nützt uns das Schimpfen über schlechte
Ausbildungen? Vertrauen wir lieber darauf, dass jemand, der auf der Suche nach
etwas für ihn Geeignetem ist, genau das findet, was er sucht. Und dass, falls
er es nicht findet, seine Suche weitergeht. Denn niemand von uns lernt jemals
aus und Voraussetzung dafür, ein guter Yogalehrer zu sein ist es immer auch,
ein guter und aufmerksamer, kritischer und dennoch nicht urteilender Schüler zu
sein.
In diesem Sinne wünsche ich uns allen, dass wir immer
neugierig bleiben und Yoga als eine jahrtausendealte Lehre mit vielfältigen
Facetten und Aspekten respektieren und in diesem weiten Feld unseren eigenen,
ganz persönlichen und individuellen Weg finden. Namasté.
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